Agile Organisation und demokratische Unternehmensstrukturen im Kontext von IT-Transformationsprojekten
Die moderne Arbeitswelt durchlebt eine Transformation, die nicht erst seit dem vergangenen Jahr eine erhebliche Beschleunigung erfährt. Die Prozesse der IT-Wirtschaft erfordern von den Protagonisten ein hohes Maß an Flexibilität und Bereitschaft zur Veränderung. Diese Entwicklung wirkt sich auf die Zusammenarbeit in Unternehmen aus und hat in Gestalt agiler Arbeitsweisen neuartige Organisationsstrukturen hervorgebracht.
Für dieses Gespräch haben wir mit Josef Ebmer und Johannes Stürzlinger über diese Prozesse gesprochen und wie sich diese auf Unternehmen wie NTS Retail auswirken. Josef Ebmer hat sich in seiner Diplomarbeit intensiv mit den Effekten demokratischer Unternehmensstrukturen beschäftigt und dabei neben anderen Unternehmen auch NTS Retail analysiert. Unser COO, Johannes Stürzlinger, hat unzählige Transformationsprojekte für führende Telco-Marken begleitet und den Einführungsprozess von Scrum in unserem Unternehmen von Anfang an mitgestaltet. Gemeinsam sprachen wir über die Effekte und Herausforderungen, die mit der Einführung agiler Methoden einhergehen. Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen!
Wir setzen bei NTS Retail nun seit einigen Jahren auf agile Vorgehensweisen in der Entwicklung und teilweise in Projekten. Wie hast du den Einführungsprozess erlebt? Welchen Wandel haben das Unternehmen und seine Prozesse seither genommen?
Johannes: Unsere Motivation für die Umstellung auf eine agile Vorgehensweise war vielschichtig. Eine bessere Zusammenarbeit, sowohl unserer internen Teams als auch der Projektteams (unserer Kunden, Partner und NTS Retail), war ein großer und wichtiger Treiber. Ebenso möchten wir mit Hilfe einer höheren Agilität eine schnelle Reaktion auf neue Markt- und Kundenanforderungen sicherstellen. Zugleich sind wir überzeugt, dass mit der agilen Vorgehensweise eine bessere Qualität unserer Produkte und Services erreicht wird.
Bei NTS Retail haben wir agile Methoden in mehreren Schritten eingeführt. Zu Beginn wurde Scrum in einem kleinen Umfeld mit einem Entwicklerteam erprobt. Im Laufe der Zeit wurde die Methode auf alle Entwicklerteams im Bereich der Produktentwicklung ausgerollt. Wir haben uns dabei an das standardisierte Scaled Agile Framework (SAFe) Modell angelehnt. Hierbei gab es viel zu lernen, nachdem die Modelle, Rollen und auch agile Meetings für viele Mitarbeiter bei NTS Retail Neuland waren. Beispielsweise erfordert diese Arbeitsweise eine hohe Prozessdisziplin, um eine gute Effizienz zu erreichen. Nach einer gewissen Reifephase haben wir auch jene Entwicklerteams, die am Customizing arbeiten, umgestellt. In diesem Zusammenhang mussten wir die Prozesse etwas abändern, nachdem der Großteil unserer Kunden die Projekte mit einem klassischen Vorgehensmodell (primär V-Modell und Wasserfall) abwickelt. Bei diesen Kunden arbeitet das Projektteam teilweise klassisch, während unsere Entwicklerteams agil arbeiten. Neben der geänderten Arbeitsweise im Projekt muss ebenfalls die kaufmännische und vertragliche Seite auf eine agile Zusammenarbeit abgestimmt werden.
Du hast insbesondere unterschiedliche Modelle zur Mitbestimmung durch die Mitarbeiter in deiner Diplomarbeit untersucht. Welche Modelle werden in der modernen IT-Wirtschaft vor allem gelebt? Gibt es regionale oder branchenspezifische Unterschiede?
Josef: Generell lässt sich sagen, dass demokratische Modelle vor allem in Branchen praktiziert werden, in denen eine strenge Struktur von Anweisung und Ausführung nicht funktionieren würde. Gerade in der Informationswirtschaft ist man neben der methodischen Fachkompetenz vor allem auf die Eigeninitiative und die kreative Problemlösungskompetenz der Mitarbeiter angewiesen. In der Softwareentwicklung wird deshalb häufig in agilen Teams nach Methoden wie Scrum oder Kanban gearbeitet. Vor allem in mittelständischen Unternehmen sind die Hierarchien in der Regel flach, während in größeren Organisationen die obere Führungsebene oftmals demokratisch strukturiert ist.
Branchenspezifische Unterschiede zu ziehen, ist durch meine kleine Stichprobe schwierig. Ich habe aber den Eindruck, dass Modelle wie Scrum hauptsächlich in der Softwareentwicklung verwendet werden. Noch weitreichendere Formen der Mitbestimmung wie Holokratie und Soziokratie finden sich dagegen häufiger in der Unternehmensführung, Beratungsunternehmen und manchmal auch in der Sozialwirtschaft. Das Arbeiten in agilen Teams wird bereits in vielen österreichischen Unternehmen praktiziert. Die Soziokratie findet durch das in Wien ansässige Soziokratiezentrum, das Beratungen und Schulungen anbietet, auch langsam Verbreitung. Eine Rarität sind in Österreich derzeit noch holokratisch arbeitende Unternehmen.
Wie wirkt sich eine umfassende Möglichkeit zur Mitbestimmung auf den Unternehmenserfolg aus?
Josef: Richtig umgesetzte demokratische Mitarbeiterbeteiligung kann sich sehr positiv auf den Unternehmenserfolg auswirken. Gerade in der IT-Wirtschaft ist die wichtigste Ressource eines Unternehmens seine Mitarbeiter. Wenn diese demokratisch am Unternehmensgeschehen beteiligt sind, hat das viele Vorteile.
Ins Unternehmen voll eingebundene Mitarbeiter, die einen Sinn in ihrer Aufgabe sehen und sich in ihrer Expertise ernstgenommen fühlen, sind engagierter und schöpfen ihr Leistungspotenzial besser aus. Nicht selten bringen sie Optimierungsvorschläge für das Produkt, ihre Abteilung oder sogar das gesamte Unternehmen ein, die dem Management nie in den Sinn gekommen wären. Je nachdem wie weitreichend die praktizierte Form der Mitarbeiterbeteiligung ist, können diese Vorschläge direkt von den Mitarbeitern selbst beschlossen werden.
Warum führen Unternehmen Demokratisierungsprozesse ein? Welche Erwartungshaltungen bestehen im Hinblick auf solche Maßnahmen?
Josef: Ein wichtiger Grund zur Einführung von Demokratisierungsprozessen ist es, die eigenen Mitarbeiter besser in das Unternehmensgeschehen einzubinden. So können Aufträge effektiver und oft auch zeitsparender erledigt werden. Das Hauptziel ist es, einen Weg zu gehen, der wegführt von dem vorherrschenden Motiv eines Arbeitnehmers, einfach nur Aufträge zu erfüllen. Der Mitarbeiter soll nicht für ein Unternehmen arbeiten – er soll sich als Teil davon verstehen und ein persönliches Interesse am Unternehmenserfolg haben.
Wichtig ist dabei zu sagen, dass davon nicht nur das Unternehmen profitiert. Arbeitnehmer, die sich mit ihrer Arbeit und ihrem Unternehmen identifizieren können, sind meinem Eindruck nach nicht nur produktiver, sondern auch zufriedener. Gerade in der Softwarebranche stellen junge Fachkräfte zunehmend den Anspruch in projektbezogene Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden. Sie bevorzugen bei der Jobsuche klar Unternehmen mit ausgeprägten Mitbestimmungsstrukturen. Auch hierin liegt ein wichtiger Grund für Demokratisierungsprozesse: Unternehmen positionieren sich als guter Arbeitgeber und heben sich dadurch von der Konkurrenz ab.
Im operativen Alltag (auf Kundenseite und/oder firmenintern) kann es durchaus passieren, dass nicht alle Abläufe im Projekt agil organisiert werden können. Welche Spannungsfelder ergeben sich daraus und wie kann man als Organisation damit umgehen?
Beide: Innerhalb der Entwicklerteams selbst ist die Kommunikation und das Zusammenarbeiten unter Einsatz von Modellen wie Scrum meist sehr angenehm. Entwickler haben ein hohes Maß an Planungssicherheit. Schwieriger gestaltet sich hingegen manchmal die Zusammenarbeit mit der Kundenseite, da es hier oft kurzfristige Änderungen geben kann. Wird ein Produkt für einen externen Kunden entwickelt, so geht die Scrum-Architektur grundsätzlich davon aus, dass der Kunde immer wieder für Rückfragen und Zwischenbesprechungen zur Verfügung steht. Auch die Preisgestaltung und das Fertigstellungsdatum entscheiden sich bei Scrum streng genommen erst im Prozess selbst.
Realwirtschaftlich funktioniert dieses Vorgehen leider nicht immer. Kunden ist es lieber Projektplan, Umfang, Deadlines und Budget von Anfang an festzulegen. Dadurch wird der Scrum-Prozess in Mitleidenschaft gezogen. Die große Stärke agiler Methoden ist es, auf Änderungswünsche des Kunden reagieren zu können und im Rahmen der Entwicklung selbst auf Verbesserungsvorschläge zu stoßen. Ist das Projekt dagegen von Beginn an genauestens spezifiziert, sind weitere Absprachen zwischen dem Kunden und dem Product Owner nicht zwingend vorgesehen. Diese Projekte werden dann genauso wie alle anderen Scrum-Projekte in Sprints eingeteilt und von den Entwicklern stückweise umgesetzt. Regelmäßige Zwischenpräsentationen des Entwicklungsfortschritts mit dem Kunden, um etwaige Missverständnisse oder auch notwendige Änderungen in der Spezifikation früh zu erkennen, sind natürlich sehr sinnvoll.
In solchen Fällen ist es entscheidend nicht stur nach dem Scrum-Schema vorzugehen. Viel wichtiger ist es, sich als Unternehmen die Frage zu stellen, welche Vorteile man sich von der agilen Arbeitsweise erhofft. Einige davon, wie zum Beispiel die bessere Einarbeitung von Feedback in das Produkt, werden nicht mehr umsetzbar sein. Schritte auf den Weg zu einem nicht länger erreichbaren Ziele nützen niemandem etwas und sollten aus dem Prozess gestrichen werden. Im Idealfall ist es so möglich die Vorteile agiler Methoden effizient auszuschöpfen, ohne sich selbst und den eigenen Mitarbeitern das Leben durch überflüssige Strukturen schwer zu machen.
Welche Trends für agile Organisationsformen lassen sich beobachten, wenn man auf die multinationale Kundenlandschaft von NTS Retail blickt?
Johannes: Der Trend in Richtung agile Organisationsformen lässt sich quer über den Globus beobachten. Der Grad der Umsetzung ist jedoch sehr unterschiedlich. Einerseits gibt es Unternehmen in unserem Kundenstamm, die bereits nahezu die gesamte Organisation erfolgreich auf agile Arbeitsabläufe (bspw. mit Hilfe des Scaled Agile Framework (SAFe)) umgestellt haben. Andererseits gibt es auch viele Organisationen, die noch am Beginn dieser Reise stehen, die Reise noch nicht gestartet haben oder auch keine Umstellung verfolgen.
Unabhängig von der verwendeten Methodologie ist eine bessere Einbindung und das Empowerment der Mitarbeiter immer eine sehr wichtige Motivation. Die schnelle und flexible Erfüllung von Kundenwünschen in einer hohen Qualität steht auch sehr weit oben auf der Agenda. Beispielsweise bedeutet das in der Softwareindustrie, dass die internen und externen Kunden schneller die gewünschten Anforderungen in den Produkten umgesetzt bekommen und so schneller den Nutzen realisieren können. So kommt etwa der neue Release nicht nur alle sechs oder neun Monate, sondern jeden Monat mit kleineren Verbesserungen, die einen Nutzen für den Kunden realisieren. Leider lässt sich auch sehr oft das Problem beobachten, dass am Papier die agile Transformation durchgeführt wurde, jedoch in der täglichen Arbeit oft noch „klassisch“ gearbeitet wird. Das resultiert des Öfteren in Grabenkämpfen und Ineffizienzen, weil sich eine Seite zu den agilen Abläufen bekennt und die andere Gruppe aus diversen Gründen nicht diesen Prozessen folgt. Ein weiteres großes Ziel ist auch die engere und partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Teams des Kunden und des Lieferanten, um somit etwa schneller Klarheit über die Anforderungen zu erreichen oder schnelles Feedback zur Umsetzung zu erhalten. Auch wir bei NTS Retail haben in diesem Bereich noch Optimierungsmöglichkeiten, wenngleich wir auf unserer agilen Reise viel erreicht und gelernt haben.
Wir bedanken uns sehr bei Josef Ebmer und Johannes Stürzlinger für dieses Interview! Mehr über Projekte bei NTS Retail können Sie in unseren Case Studies nachlesen!